Arnold Vogt
Volle Gleichstellung nie erreicht
Chancen und Grenzen jüdischer
Religion im deutschen Militär bis zum Jahr 1918
1. EINLEITUNG
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurden im deutschsprachigen
Raum auch Juden zum Militärdienst einberufen. Ihre persönlichen,
dienstlichen und religiösen Belange entwickelten sich bis zum Ende
des Ersten Weltkriegs im wesentlichen unter zwei Bedingungen:
1. Juden befanden sich in dieser Zeit stets in
einem Minderheitenstatus gegenüber einer mehrheitlich andersgläubigen,
»christlichen« Gesellschaft, einem ideologisch-christlichen
und monarchisch legitimierten Staats-/Militärwesen, einer konfessionell-christlichen
Obrigkeit »von Gottes Gnaden«.
2. Chancen und Grenzen jüdischer Religion
unterlagen dem für deutsche Verhältnisse eigentümlichen
militärisch-zivilen Dualismus in Staatsverfassung und Gesellschaft
zwischen den bürgerlich-demokratischen, liberalen Hoffnungen auf eine
»Judenemanzipation« einerseits und den primär monarchisch
orientierten, traditionsbehafteten und exklusiv christlichen Machtstrukturen
des Militärs andererseits.
Unter diesen Voraussetzungen kann »jüdische
Religion im Militär« in ihrer Darstellung nicht auf die bloße
Organisation oder auf konkrete, institutionelle Ausdrucksformen beschränkt
werden. Vielmehr ist auch das informelle Umfeld jüdischer Religion
im Militär in ihrem ganzheitlichen politischen und kulturellen Beziehungsgefüge
zu erfassen. Dazu ist es notwendig, die Entstehungsgeschichte der einschlägigen
Gesetze, Vorschriften und die durch die Tradition geprägten Vorstellungen
zu berücksichtigen. Außerdem sind die Wechselbeziehungen zwischen
Staats-, Militär-, Kirchen- bzw. jüdischen Kultusbehörden,
staatlichen Autoritäten (Monarchen, Volksvertretungen u. a.), der
Zivilbevölkerung und der Presse zu untersuchen, soweit sie sich an
der Diskussion über Gestaltung, Wesen und Institution jüdisch-religiöser
Betreuung im Militär beteiligten.
2. DIE ANFÄNGE DEUTSCH(SPRACHIG)ER JÜDISCHER MILITÄRSEELSORGE
Chancen und Grenzen jüdischer Religion waren trotz unterschiedlicher
staatlich-territorialer Traditionen wesentlich von »christlichen«
kulturellen Einflüssen und geistig-religiösen Wechselbeziehungen
unter deutsch(sprachig)en Truppen geprägt. Von besonderer Bedeutung
war die macht- und konfessionspolitische Rivalität zwischen Preußen
als der »protestantischen« Führungsmacht im deutschsprachigen
Raum und ihrem »katholischen« Gegenspieler Österreich(-Ungarn).
Sie erwies sich ...
2. 1. DAS DEUTSCHE REICH – EIN »CHRISTLICHER STAAT«?
In den kleineren und mittleren »deutschen« Bundesstaaten
lag die (kirchlich-)religiöse Betreuung der Soldaten seit alters in
Händen lokaler Kirchen- oder Kultusbehörden. Im Heerwesen größerer
Staaten, zum Beispiel in Österreich und Preußen, war eine besondere
Organisation geschaffen worden: die »Militärseelsorge«
bzw. »Militärkirchen« und die Militärgeistlichkeit.
Obwohl sie stets auf die katholische oder evangelische Konfession beschränkt
war, ...
2.2. DIE BENACHTEILIGUNG RELIGIÖSER MINDERHEITEN
Im preußisch-deutschen Heer waren grundsätzlich bis 1834
nur evangelische Militärgeistliche, später auch katholische angestellt.
Die preußische »Militärkirchenordnung« erlaubte
aber an einem Ort, wo die geringe Anzahl (katholischer oder) evangelischer
Soldaten die Anstellung eines eigenen Garnisonsgeistlichen nicht rechtfertigte,
die Beauftragung von Zivilgeistlichen am Ort oder in der Nachbarschaft.
Dieser Grundsatz einer freien Religionsausübung bzw. einer Minderheitenseelsorge
galt prinzipiell auch für alle religiösen Gruppierungen, die
nicht einer der großen christlichen Kirchen angehörten. Es handelte
sich ...
2. 3. DIE FORDERUNG JÜDISCH-RELIGIÖSER BETREUUNG UND IHRE
ERSTEN ERFOLGE
I.
Die Forderung nach einer religiösen Betreuung jüdischer Militärpersonen
entstand aus »aufklärerischem«, liberalem Gedankengut
im Zuge der Judenemanzipation zu Anfang des 19. Jahrhunderts, als erstmals
Juden und Christen gleichberechtigt miteinander in den neuartigen Volks-
und Massenheeren kämpften. Der erste Einsatz eines jüdischen
Feldgeistlichen ...
II.
In der »restaurativen« Entwicklung nach den Befreiungskriegen
wurden die Juden wieder aus dem Militärwesen verdrängt. Es gab
für sie keine Zivilanstellung trotz der anderslautenden Zusicherung
des Königs vom 9. 2. 1813 für alle Freiwilligen, stattdessen
Entlassung jüdischer Offiziere oder ihre Benachteiligung, Verbot von
Beförderungen jüdischer Soldaten überhaupt seit 1822, Zurückhaltung
der Rekrutierungsbehörden gegenüber Juden. Oft wurde ...
III.
Ende der 50er Jahre, besonders in den 60er Jahren, erfuhr die Forderung
nach einer religiösen Betreuung jüdischer Militärpersonen
neuen Auftrieb — zunächst außerhalb Preußens. 1856 erlaubte
das bayerische Kriegsministerium eine Dienstbefreiung für jüdische
Soldaten am Sabbath und an Feiertagen. In Würzburg ...
2. 4. DIE WACHSENDEN SCHWIERIGKEITEN DER JUDEN
In Wilhelminischer Zeit, in den drei Regierungsjahrzehnten Kaiser Wilhelms
II. (1888-1918), erfreute sich die (christliche) Militärseelsorge
eines neuen, starken öffentlichen und amtlichen Interesses. Sie hatte
einen höheren militärpolitischen Stellenwert als zuvor, der äußerlich
in den regierungsoffiziellen Bemühungen um den Ausbau und die Neugestaltung
des Militärkirchenwesens sichtbar wurde ...
I.
Von der intensiven Förderung der »Militärseelsorge«
durch staatliche militärische Behörden waren Juden ausgeschlossen.
Es lag wieder bei jüdischen Vereinigungen, den Gemeinden, Verbänden
oder einzelnen Persönlichkeiten, an bestehende Vorschriften zu erinnern,
sie für die religiösen Interessen zu nutzen und in besonderen
Anträgen an die Militärbehörden auf jüdische Feiertage
hinzuweisen; denn die preußische Garnisonsdienstvorschrift ...
...
Zusätzliche Schwierigkeiten erfuhren Juden in Wilhelminischer Zeit
aus dem sich damals verschärfenden Antisemitismus. So sahen sich Juden
wieder zum Nachweis ihrer Teilnahme an Kriegen, militärischer Leistungsfähigkeit
und national-deutscher Gesinnung genötigt, die von antisemitischer
Seite bezweifelt wurden. Dennoch verweigerten Staats- und Militärbehörden
die Auswertung amtlicher, archivalischer Quellen zur Abwehr der öffentlichen,
ehrenrührigen Angriffe, so daß sich die jüdische Literatur
zur Verteidigung, abgesehen von umständlichen, unsicheren Umfrageergebnissen
und wenigen, schon früher veröffentlichten Werken, auf Namenstafeln
von Kriegerdenkmälern der jüdischen Kultusgemeinden stützen
mußten. Indem dabei die (jüdische) Gefallenenehrung und das
Kriegsgedenken zur Demonstration politischer Interessen verknüpft
wurden, übernahmen die Verteidiger der Juden das Argumentationsmuster
der offiziellen staatlichen Kriegerdenkmalspropaganda und reklamierten
sie konsequenterweise für jüdisch-religiöse Belange.
(Fortsetzung und Schluß
im Heft 101)
27 Anmerkungen
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